Die Welt als Stillleben

Bilder von der Welt sind nicht immer Bilder der allgemein sichtbaren Welt. Sie erzählen von den verborgenen Dingen, von den übersehenen Situationen, von den Rändern des Daseins, vom unscheinbaren Sein des Lebens.

Reinhart Mlineritsch ist ein Fotograf mit der Liebe zu diesem Unscheinbaren; er entdeckt die unspektakulären Ansichten, die fast zertretenen Pflanzen, die unansehnlichen Tümpel. Die Architekturen, die ihn interessieren, sind keine „Bauwerke“, sondern sind irgendwie zu einem unwillkürlichen Bau geworden: Unterführungen, Abrisshäuser, Baustellen mit ihrem Gerümpel und den spannenden Ansichten von liegen gelassenen Materialien. Er verleiht diesen Un-Orten Bedeutung, indem er sie für seine fotografischen Bilder entdeckt; er entzieht sie der Anonymität und verleiht ihnen eine Aufwertung, indem er sie „würdig“ für ein Bild erklärt. Er durchforstet das Gestrüpp neben der Straße und verleiht den pflanzlichen Strukturen ein eigenes Flair in seinen harten Schwarz-Weiß-Kontrasten, er untersucht die Ränder von Gewässern und Gerinnen nach scharfen graphischen Elementen und flächigen Grauwerten, er verleiht der Langeweile eines Stoppelfeldes oder einer Abraumhalde Dynamik und Spannung, indem er horizontale Flächen mit diagonalen Schrägen rhythmisiert.

Die Sicht auf die Welt des Kleinen und Verborgenen gerät dem Fotografen Mlineritsch meist zu einer Serie von Stillleben. Seine Welt ist menschenleer und still. Seine Orte sind seit ewigen Zeiten die gleichen, sie wirken gleichsam der Zeit entgegen. Ihnen eignet nichts Momenthaftes und sie scheinen unberührt von den Veränderungen einer schnelllebigen Gesellschaft.

Seine Kompositionen sind minutiös ausgerechnet und feinsinnig komponiert; er überlässt nichts dem Zufall oder dem momentanen Effekt. Und seine nächtelange Dunkelkammerarbeit ist legendär: kein Print verlässt sein Studio, den er nicht eigenhändig angefertigt, vielfach kontrolliert und – wenn nötig – etliche Male verbessert und perfekt vergrößert hat.

Der 1950 in Wien / Österreich geborene Fotograf hat sich als Autodidakt der Fotografie genähert und in den letzten 20 Jahren ein stilles, überzeugendes fotografisches Oeuvre geschaffen. Er fühlt sich einer klassischen, traditionellen Dokumentarfotografie verpflichtet, die für ihn das Gegengewicht zu einer digitalen Bilderflut und einer lauten Propagierung von neuen Bildtechnologien darstellt. (Margit Zuckriegl, IZ-Magazin Nr. 4 2006, Istanbul, Türkei, Übersetzung aus dem Englischen).